Krankenhaus, Intensivstation, Klinik, Beatmungsplatz, Coronavirus, © Uwe Anspach - dpa (Symbolbild)

Weshalb Patienten in Deutschland bisher viel seltener an Covid-19 sterben

Bisher scheint es fast so, als käme Deutschland im internationalen Vergleich mit einem blauen Auge davon - doch der Anschein ist trügerisch

Die ganze Welt ist wegen der Coronavirus-Pandemie seit Wochen im Ausnahmezustand. Regierungen von Australien über Asien, Europa, Amerika und Afrika bereiten sich auf den Ernstfall vor. Und dennoch gibt es deutliche Unterschiede bei den Totenzahlen.

Gemessen an der Gesamtzahl aller registrierten Fälle sticht besonders Deutschland mit einer relativ niedrigen Zahl von Coronavirus-Todesopfern hervor - die so genannte "Fallsterblichkeit". Bis zum letzten Dienstag (24.03.2020) hatte etwa Italien mehr als doppelt so viele Fälle gezählt wie Deutschland - die Fallsterblichkeit lag dort aber mehr als 20 Mal höher als bei uns. Das geht aus ausgewerteten Daten der Johns Hopkins Universität im US-Bundesstaat Baltimore hervor.

Warum das so ist, darüber kann die Weltgesundheitsorganisation bisher nur spekulieren. Auch WHO-Experte Richard Pebody bezeichnet die unterschiedliche Fallsterblichkeitsrate im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur als rätselhaft. Er warnt ausdrücklich davor, Länder direkt miteinander zu vergleichen, denn die Rahmenbedingungen seien in jedem Land anders. Trotzdem gibt es aus seiner Sicht mehrere Erklärungsansätze, die eine Rolle spielen:

Der Zeitpunkt der Epidemie im jeweiligen Land

Italien, Spanien und nun auch Teile von Frankreich wie das Elsass sind wahrscheinlich in der Entwicklung der Epidemie schon viel weiter als Deutschland. Dort dürften die ersten Infektionsfälle mit dem Coronavirus schon früher aufgetaucht sein, blieben aber lange unentdeckt, weil teilweise nicht so früh getestet wurde wie in Deutschland. So konnte sich das Virus vermutlich unbemerkt in weiten Teilen der Bevölkerung einer Region oder des gesamten Landes ausbreiten.

Das Tückische ist, dass es nach der Ansteckung eine Weile dauern kann, bis wirklich schwere Symptome oder ernste Komplikationen auftreten. Viele Patienten waren wochenlang in mehr oder weniger stabilem Zustand auf der Intensivstation, bevor der Krankheitsverlauf bei ihnen bedrohlich wurde.

Das Alter der Betroffenen

Weil in vielen anderen Ländern nur sehr wenige Menschen auf den Erreger getestet werden, kennt die Weltgesundheitsorganisation immer nur das Durchschnittsalter der nachweislich Infizierten - nicht aber die vermutlich hohe Dunkelziffer. Es dürfte demnach vor allem viele jüngere Leute geben, die das Virus ebenfalls schon in sich getragen haben, aber nur milde oder gar keine Symptome hatten. 

Und auch unter den bestätigten Coronavirusfällen ist in Italien beispielsweise das Durchschnittsalter mit 63 Jahren viel höher als in Ländern wie Deutschland. Hier liegt der Schnitt bei rechnerisch 45 Jahren. Bei jüngeren Patienten verläuft die Lungenkrankheit in der Regel eher leicht - auch wenn es trotzdem immer wieder Fälle gibt, bei denen junge Menschen mit schweren Atemproblemen oder drohendem Organversagen auf der Intensivstation landen und daran sterben können.

Das Robert-Koch-Institut nennt in der deutschen Statistik nur die Altersgruppe ab 60, nicht die ab 70 Jahren. Selbst da liegt der Anteil in Deutschland deutlich unter den italienischen Werten. Anfang der Woche waren 19 Prozent der nachweislich Infizierten in Deutschland über 60. Mehr als die Hälfte waren zwischen 35 und 59 Jahre alt. Gerade mit Blick auf Italien ist dabei aber wichtig zu betonen: Es geht um die nachgewiesenen Fälle.

Virusnachweis über Labortests

WHO-Nothilfe-Koordinator Michael Ryan geht von einer enorm hohen Dunkelziffer aus, weil in Ländern wie Italien vor allem die älteren Risikogruppen auf den Erreger getestet werden und jüngere Patienten mit oder ohne Symptomen deutlich seltener. Wäre das ausgeglichener, sähe wahrscheinlich auch die Fallsterblichkeit anders aus, glaubt er. Das Vorgehen von Deutschland bei den Labortests beschreibt Ryan da als vergleichsweise "aggressive Teststrategie". Deshalb scheint es hierzulande in der Statistik am Ende auch mehr milde Verläufe zu geben - weil diese überhaupt mit erfasst werden.

Unterschiede gibt es auch, wie mit verstorbenen Menschen umgegangen wird. Manche Länder lassen sie nachträglich auf Covid-19 testen, andere nicht. Auch das ändert die Datenlage. Und je weiter fortgeschritten eine Epidemie ist, desto schwieriger werde es für ein Land, viel zu testen, weil das Gesundheitssystem dann irgendwann an seine  Grenzen stößt. Weltgesundheitsorganisations-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus ruft dennoch klar dazu auf:

Testen, testen, testen. [...] Die Länder müssen wissen, wie die Lage ist. Man kann blind kein Feuer löschen.

Unterschiedliche Qualität des Gesundheitswesens

Je besser die Krankenhäuser vorbereitet seien, desto mehr Leben können gerettet werden, ist WHO-Koordinator Ryan überzeugt. Wenn die Krankenhäuser von der Zahl der Patienten überwältigt werden, ist es eine simple Frage der Möglichkeiten, inwieweit die Mitarbeiter angemessene Pflege leisten können oder ob man auf jede Veränderung im Zustand des Patienten auf der Intensivstation reagieren kann. Drei Faktoren sind hier aus Sicht der Gesundheitsexprten maßgeblich entscheidend: Die Zahl der Intensivbetten, ausreichend Schutzkleidung und gut ausgebildetes und möglichst erholtes Personal auf den Intensivstationen.

Vor der Krise standen den rund 60 Millionen Menschen in Italien nach Behördenangaben rund 5.000 Intensivplätze zur Verfügung. Weitere wurden inzwischen geschaffen. Großbritannien hatte vorher nur 4100 Intensivbetten für seine 66 Millionen Einwohner. In Deutschland gibt es für eine Bevölkerung von rund 80 Millionen etwa 28.000 Betten, in denen eine intensivmedizinische Versorgung möglich ist. Und beispielsweise auch in Südbaden sind die Kliniken gerade so gut es geht dabei, diese Zahl noch einmal zu verdoppeln.

Zwischenfazit der Weltgesundheitsorganisation

Insgesamt sind sich die Experten einig, dass rigoroses Testen, Isolieren von Erkrankten und Quarantäne für Menschen, die Kontakt mit Infizierten hatten, die Ausbreitung des Coronavirus bremsen. Südkorea und Singapur haben das besonders konsequent umgesetzt.

In manchen Ländern hält die WHO auch weitere Ausgangsbeschränkungen für notwendig, um die Pandemie zu verlangsamen. Zum Vergleich: In Südkorea liegt die Fallsterblichkeitsrate momentan bei rund 1 Prozent, in Singapur bei 0,3 Prozent. Die asiatischen Überwachungsmethoden wirken für die meisten Europäer allerdings recht heftig: In Singapur gibt es nun eine staatliche App fürs Smartphone, bei der sich via Bluetooth herausfinden lässt, wer sich mehr als 30 Minuten in weniger als zwei Metern Abstand zu einem Infizierten aufgehalten hat.

Auch in Deutschland lag die Fallsterblichkeitsrate vor ein paar Tagen noch bei "nur" 0,4 Prozent. Allerdings sind sich Politik und Gesundheitsbehörden darüber einig, dass wir hierzulande noch am Beginn der Infektionswelle stehen.

Innerhalb der nächsten Wochen werden nicht nur die Fallzahlen noch einmal rapide ansteigen. Sondern dann werden es auch die Kliniken mit sehr viel mehr schweren Verläufen zu tun bekommen. Ziel ist es, den vermeintlichen Zeit- und Wissensvorsprung über die Entwicklung der Coronavirus-Pandemie im Vergleich zu Italien oder den französischen Nachbarn im Elsass zu nutzen, wo sich die Lage bereits in eine dramatische Richtung entwickelt hat.

dpa / (fw)