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Der Prozess im Fall Alessio hat begonnen

Der Prozess im Fall Alessio hat begonnen

Der Vorwurf

Am Landgericht Freiburg wird seit dem 15.09.2015 gegen einen 33-jährigen Landwirt aus Lenzkirch verhandelt. Er soll am 16. Januar 2015 seinen erst 3-jährigen Stiefsohn Alessio verprügelt haben, so dass dieser später an inneren Verletzungen gestorben ist. Die Anklage der Staatsanwaltschaft: Totschlag und Misshandlung von Schutzbefohlenen. Schon Wochen und Monate vor der mutmaßlichen Tat soll sowohl Alessio, als auch seine kleine Schwester Emilia von dem Angeklagten misshandelt worden sein. Die Staatsanwaltschaft spricht in ihrer Anklageschrift von blauen Flecken, die immer wieder bei Alessio festgestellt wurden. In einem Fall haben Ärzte auch gelockerte Zähne attestiert, nach dem der Stiefvater Alessio kräftig auf den Mund geschlagen haben soll. Emilia, die eigene Tochter, soll der Beschuldigte in einem Fall heftig geschüttelt haben, so dass das Baby für kurze Zeit keine Luft bekommen hatte.

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Der erste Prozesstag

Das Medieninteresse ist groß. Viele Journalisten sind zum Landgericht Freiburg gekommen, auch mehrere Kamerateams sind vor Ort.
Der Angeklagte wirkt schüchtern, sitzt fast zusammengekauert und verängstigt neben seiner Verteidigerin, als die Staatsanwaltschaft die Anklage vorliest. Detailliert werden erst die mutmaßlichen Misshandlungen gegen Alessio und seine Schwester vorgelesen, dann geht es um die Tat am 16. Januar 2015. Aus dem Publikum im Saal ist bis dahin immer wieder ein Raunen zu hören, angesichts der schockierenden Details. Der Staatsanwalt spricht von 4 harten Boxschlägen in den Bauch von Alessio. Einer der Schläge hatte einen Leberriss zur Folge. 2 Stunden später ist Alessio tot. Ärzte in Titisee-Neustadt hatten noch um das Leben des 3-jährigen Jungen gekämpft – ohne Erfolg.

Anschließend befragt die vorsitzende Richterin den 33-jährigen nach seinem Leben. Er schildert seine Kindheit bei seinen Eltern, wie er in den frühen Jahren immer wieder von seiner eigenen Mutter misshandelt wurde. Und das hatte Auswirkungen: Aus seiner Grundschulzeit erinnert er sich an erste Aggressionen. „Ich war schwierig“, sagt er. Freunde gab es kaum. Er erzählt von seinem späteren Traum, den er bis heute hat: Landwirt sein, mit eigenem Hof.
Die Chance dazu bekommt er später in Lenzkirch. Er kann einen Hof mit rund 140 Tieren übernehmen. Er verschuldet sich, muss zwei weitere Nebenjobs antreten - in einem Sägewerk und als Hausmeister. Die Folge, wie er selbst zugibt, sind oftmalige Überlastungen und Stresssituationen. Das ist auch noch so, als er seine neue Lebensgefährtin Anfang 2013 kennenlernt. Sie sucht zusammen mit Mutter und Sohn eine Wohnung. Er gibt sie ihr. Beide kommen sich näher, später wird Emilia geboren – die gemeinsame Tochter.

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PIN 1708

Seinen Stiefsohn Alessio beschreibt der 33-jährige als zurückgeblieben. Er konnte mit 3 Jahren nicht richtig laufen und sprechen. Immer wieder will der Mann die Erziehung in die eigene Hand nehmen. Dadurch kommt es auch zu Streitigkeiten mit der Mutter. Misshandlungen von Alessio streitet der Angeklagte am ganzen ersten Prozesstag ab. Eine Ohrfeige gibt er zu, wofür er sich danach aber auch gleich wieder bei Alessio entschuldigt haben will. An diesem Morgen war er „gestresst“. Nach seinen eigenen Worten war Alessio „wie sein eigenes Kind“. Die Verteidigerin will dies mit einer besonderen Information verdeutlichen. Die Bankkarte des Angeklagten hatte demnach als Nummer das Geburtsdatum von Alessio: 17.08 - im Jahr 2011.

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Die Katastrophe war vorprogrammiert

Der Angeklagte in frühester Kindheit misshandelt, die Lebensgefährtin depressiv – wie es heute hieß. So gab es von Anfang an immer wieder Spannungen zwischen beiden, unter denen auch die Kinder litten. Dazu der große Lebenstraum des Mannes vom eigenen Hof, der über allem stand und der in Gefahr war. Der Hof nicht wirtschaftlich, dazu zwei weitere Nebenjobs.
Als die Lebensgefährtin wegen ihrer Depressionen schließlich in stationäre Behandlung musste und der Angeklagte mit den Kindern allein und später auch völlig überfordert war, wie er sagte, schien nur eine kleine Stresssituation auszureichen. Und so spielte Alessio am 16. Januar in seinem Zimmer, verursachte dabei ein leichtes Chaos, stürzte eine kleine Treppe hinunter, nässte ein und fing an zu schreien. Zu viel für den Landwirt. Er gab ihm "zwei bis drei Faustschläge", wie er heute zugab. Später sagte er: "Es tut mir Leid."
Was das Jugendamt, dass von den Zuständen in der Familie wusste, in dem Fall für eine Rolle spielte und was die Behörden möglicherweise hätten verhindern können, beschäftigt inzwischen auch die Landespolitik. Alessio hilft es nicht mehr.

Video vom 21. Januar 2015: Der Stiefvater des getöteten Alessio aus Lenzkirch hat sich gegenüber dem Jugendamt kooperativ gezeigt, das räumen auch die Ärzte des Freiburger Uniklinikums ein. Sie hatten jedoch eindeutige Anzeichen für eine körperliche Misshandlung des Jungen gefunden.